Neulich hing bei bei uns der Haussegen schief. Grund dafür war die Zylinderratte. Die ist Teil der familiären Sagenwelt. Unter anderem haben wir die Züngelunke, den Wichtel in der Küchenwand und den Schlafgutzwerg. Alle zusammen sollen bei der Erziehung unserer Tochter Mathilda mit anpacken. Sie scheinen mir drolliger als Struwwelpeter, Suppenkasper und Co. Leider funktionieren sie auch nicht so gut.
Die Züngelunke war zum Beispiel ein ziemlicher Reinfall. Ich habe Mathilda erzählt, dass die Züngelunke unartigen Kindern die Ohren ausschlabbert, damit sie wieder auf ihre Eltern hören. Das Ergebnis war aber nicht etwa sofortige Folgsamkeit, sondern ein Kicheranfall. Ich war enttäuscht.
Nun sollte es also die Zylinderratte richten. Geboren wurde sie aus einem Telefonat mit der Oma. Mathilda berichtete, dass wir im Stall eine Maus haben, die sich mit den Häschen das Essen teilt. Zu dritt sitzen sie um den Napf herum und mümmeln in stiller Eintracht. Oma nahm es mit Fassung auf. Eine Maus im Stall sei immer noch besser als Ratten.
In diesem Moment gab es zwischen meinen Ohren eine zerebrale Fehlzündung. Das kommt öfter vor. Ich antwortete: „Och, wenn es eine gut erzogene Ratte ist, die artig ‚Guten Tag‘, ‚Bitte‘ und ‚Danke‘ sagt, hätte ich nichts dagegen.“
Seither gibt es bei uns die Zylinderratte. Sie trägt neben ihrem Hut noch einen Gehrock und hat ausgezeichnete Manieren. Tatsächlich hat sie sich zur familieninternen Zentralgewalt für gutes Benehmen gemausert. Die Zylinderratte sieht alles. Sie ist das personifizierte schlechte Gewissen. Wenn Mathilda etwas ausheckt, heißt es sofort: Denk an die Zylinderratte!
Das führte dazu, dass die Begeisterung für dieses Kindermädchen in Nagetierform rasch abkühlte. Niemand mag Leute, die immer nur streng sind. Auf der anderen Seite hat Mathilda damit begonnen, eigene Sagenfiguren zu erfinden. Zum Beispiel einen gebastelten Jungen namens Pappnocchio.
Um den Frieden mit der Zylinderratte wiederherzustellen, haben wir uns auf einen Kompromiss geeinigt. Sie ist weiterhin streng – und sie sieht absolut alles. Auf der anderen Seite kann die Zylinderratte fast alles verzeihen. Zumindest solange ein gewisser Herr Papa oft genug geknuddelt wird. Erzieherisch mag das nicht sehr schlau sein. Aber zumindest ich kann sehr gut damit leben.
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