Ein Mann sieht rot

Irgendwo in meiner Ahnenreihe muss sich Bob der Baumeister verstecken. Zusammen mit einem farbenblinden Höhlenmenschen. Beruflich bedingt schubse ich den größten Teil des Tages Buchstaben umher.

Aber in meiner Freizeit habe ich eine andere Leidenschaft: das Herumhandwerken. Anfangs rieben sich noch Notarzt und Bestatter die Hände, sobald ich zum Werkzeug griff. Aber mittlerweile geht’s ganz gut.

Ich finde es schön, etwas selbst zu reparieren oder zu bauen. Es schafft eine Verbindung zu dem Ort, an dem man lebt. Außerdem mag ich den Gedanken, dass wir uns als Familie unser Zuhause selbst gestalten. Aber leider gibt es bei jeder Sanierung einen Endgegner: Die Farbauswahl.

Männer und Farben sind oft so ein Ding. Aber ich habe geübt. Jahrelang. Mittlerweile weiß ich sogar, wie Petrol aussieht und dass es nicht in eine Lampe gehört. Doch die Farbabteilung im Baumarkt bleibt für mich ein finsteres Tal der Schrecken.

Neulich stand ich wieder da.

„Guten Tag, ich hätte gerne weinrote Wandfarbe. Für innen und matt.“

„Haben wir nicht.“

Ich blickte auf das nächste Regal. In einigen Kilometern Entfernung verschmolzen die Farbeimer, Tiegel und Töpfchen mit dem Horizont. Die Menge der dargebotenen Nuancen reichte aus, um ein Monumentalgemälde aus Regenbögen, Einhörnern und Blumenfeen zu gestalten, ohne einen einzigen Farbton zweimal zu benutzen.

„Sie haben kein Weinrot?“

„Nö. Aber wir hätten ‚Sinfonie‘, ‚Amarena‘, und ‚Romantisches Pfingstrosenrosé.“

Ich seufzte. Durch mein Sprachzentrum huschten Flüche, für die sich Käpt’n Ahab nicht geschämt hätte. Aber weil es immer so läuft, machte ich kein Theater. Stattdessen malerte ich mein Arbeitszimmer stillschweigend mit „flammendem Herz“ und hängte Vorhänge der Sorte „Ulli light“ auf. Unsere Küche ist Old-Dublin-farben und an den Wohnzimmerfenstern hängt ein Vorhang namens „Blauer Gigolo“. Ich finde, man könnte sich die Sache einfacher machen. Aber bitteschön: Scheinbar muss auch bei den Herren aus der Farbabteilung irgendwo die Kreativität raus.

Nur manchmal kommt es vor, dass ich seltsame Träume habe. Dann schleiche ich mit einem angespitzten Farbrührer in den Baummarkt, zerre die Angestellten vor ihr eigenes Sortiment und schreie: „Sag, dass das Rot ist! Nicht ‚gefühlvolles Herzensrot‘, nicht ‚englisches Rosenrot‘, sondern einfach bloß Rot! Rot verdammt! Sag es! Sonst sehe ich für deine persönliche Zukunft schwarz beziehungsweise Mitternachtssternenstaub noir! Verstehste?“

Nun ja. Die Welt ist bunt. Und die Gedanken sind frei.